Kreativität verunsichert – und das ist gut so! (Walter Kreuz)
Süße Leere
Zeitreise. Wir schreiben das Jahr 7021. Datenträger von Anno Dazumal sind nicht mehr lesbar, E = mc2 gilt nicht mehr. An einer aufgelassenen Haltestelle der Evolution erinnert die verbogene Tafel atrrburrs stjpp vage an Verkehrshöllen, Hunger, Durst, Überfressenheit, Kälte, Überhitzung, Zuneigung, Gefangenschaft und nationale (Zuge)Hörigkeit. – Freilich, es könnte alles ganz anders kommen innerhalb der nächsten 5000 Jahre. Reichtum, Völle, Paradiesesbadezimmer mit Gels, Cremen und Tinkturen fürs totale – nein – totalitäre Wohlfühlen. Angeekelt von dieser Vision des Guten und Schönen halten wir es mit der süßen Leere und schreiben ein Plädoyer für gegenwärtige Niemandsländer. Das Hier und Jetzt fragt weder nach dem Woher noch nach dem Wann, ebenso wenig danach, ob der Ort, wo Zelte aufgeschlagen wurden, rechtens ist. Gut so. Gratulation dem Hier und Jetzt!
Freiheit – gebunden und zugeschüttet
Fast hätten sie es geschafft und vollständige Freiheit erlangt. Aber da wird den jungen Menschen abermals die zweifelhafte Ehre zuteil, den Titel UNSERE JUGEND (woher kommt eigentlich diese Diktion?) tragen zu dürfen und im Sinne eines beiläufig ausgesprochenen Besitzverhältnisses alle Verpflichtungen zu übernehmen, die sich daraus ergeben: Dankbarkeit, Funktionsfähigkeit, Pflichtbewusstsein, Fleiß, Flöten- und Ballettunterricht, Kampfsportausbildung, Freizeitstress, Integrationsfähigkeit, Verständnis für abgeschottete Familiensysteme inklusive Mutter-Tochter-Universen und Vater-Sohn-Legenden und eine nie enden wollende Latte an Verbindlichkeiten. Wer bei diesem Aufzählungs-Tschinderassa eine Blume ohne Zuordnung, ohne Gattungs- und Artennamen sein will, hat es wahrlich schwer. Grinsekater schnurren es auf Plakatwänden vor, wie käufliche Produkte zur Persönlichkeitsbildung beitrügen und wo die Zutaten einer Laufsteg- und Telewelt zu erwerben wären, einer Welt frei von Hässlichkeit, Krankheit und Tod.
Schöne Fantasie – überhitzt und überschätzt
Wir tappen gern in Unbekanntes. Wir pfeifen auf eine falsch verstandene Freizeitkreativität und auf Verschönerungsvereine, welche die Zuordnungssysteme der braven BürgerInnen und Stammesangehörigen schonen und ihre Verlogenheit zudecken, auch wenn sich einige unter ihnen die Joppe von Alternativität umhängen. Auseinandersetzung bedeutet, dass Bindungen und Verbrüderungen auseinander gesetzt werden. Wir schalten also die einlullende Heizdecke der Schönen Fantasie ab und tanzen um die Wasserlöcher der Niemandsländer.
Kreati… – was?
Die sogenannte Kreativität. Seit gut 300000 Jahren wird über sie gerätselt. Und jetzt kommt sie wieder ganz groß in Mode. Geckos belieben es, ihre Posen starr und stur stundenlang beizubehalten. Hören und Sehen dieser Leichtgewichte in der Reptilienwelt ermutigen uns, der knisternden Wartezeit und der Verzögerung der Kreativität Raum zu geben. Wir bauen der Kreativität auch ganz bestimmt keine Synagogen, Kathedralen oder Moscheen. Ideenproduktion vollzieht sich ebenso menschlich und lustvoll an Arealen der Gottlosigkeit und des Skeptizismus. Außerdem: Ideen stören mitunter und trotzen jeder Zu(Ordnung). Wir ermutigen Menschen aller Altersgruppen auf schlichte und unspektakuläre Weise, eigene Codes – Sprechwerke, Denkmuster und Dramaturgien – zu produzieren und, wenn sie wollen, damit anderswo erfrischende Verwirrung zu stiften.
FEDER, LUFT & LINSE, das gecko art-Magazin (Artikelsammlung Gedanken und Reflexionen seit 2008) erscheint in unregelmäßigen Abständen. Ausgewählte Artikel liegen auch in Printform vor (wie etwa 20 Jahre gecko art – Rückblick).